4 Seasons - Labyrinth des Begehrens by Jackson Vina

Autor:Jackson, Vina [Jackson, Vina]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: carl’s book
veröffentlicht: 2014-11-26T23:00:00+00:00

6

DIE SCHATTEN DER DUNKELHEIT

»Komm näher«, bat William.

Der frisch gemähte Rasen hinter ihm dehnte sich endlos aus, darüber erstreckte sich ein Panorama schneebedeckter Gipfel, die über dem Tal aufragten. Giselle war mit dem Zug zur Reha-Klinik gefahren und hatte am Bahnhof in Genf das bereits gebuchte Taxi genommen. Die Weiterfahrt hatte nur knapp eine Stunde gedauert, über leere, sich bergauf, bergab windende Straßen mit scharfen Kurven, schließlich durch den dunklen Schlund des Tunnels unter dem Montblanc.

An diesem schönen Tag war William nicht in seinem Zimmer gewesen. Die Pflegerin hatte Giselle in den Gemeinschaftsraum und durch die Schiebetüren geführt, die in den Garten hinausgingen.

»Wenn das Wetter es erlaubt, sitzt er dort gern eine halbe Ewigkeit.«

Der Himmel war tiefblau, wolkenlos, die Luft frisch und rein. William saß im Schatten einer hohen, ausladenden Eiche, den Bergen zugewandt und offensichtlich tief in Gedanken versunken. Er trug eine dunkle Brille. Seine Haare waren nachgewachsen, dicht, lockig und wirr, und er hatte jetzt einen mit Weiß durchsetzten Vollbart, der ihn zwar älter machte, aber die Brandnarben verdeckte. Sein Hemd war bis zum Kragen zugeknöpft, daher konnte man nicht sehen, welche Brandmale auf seiner Brust zurückgeblieben waren. Fast hätte man meinen können, es wäre nichts Schlimmes passiert.

Das weiche Gras dämpfte ihre Schritte.

Seine Begrüßung war warmherzig und milderte sofort die zahllosen Ängste, die sie während der gesamten Zugfahrt gequält hatten. Er klang weder anklagend noch zornig.

Sie kam näher. Holte tief Luft. Stellte sich neben ihn.

»Du riechst gut«, sagte William.

Bevor der Zug im Bahnhof eingetroffen war, hatte Giselle sich ein wenig Wasser ins Gesicht gespritzt und danach noch Parfüm hinter die Ohren getupft. Chanel No. 5. Er hatte ihr den teuren Duft zum letzten Geburtstag geschenkt. Sie hatte eingewandt, das Parfüm sei vielleicht etwas zu damenhaft für sie, inzwischen aber hatte sie sich daran gewöhnt. »Aber du bist doch jetzt eine Frau«, hatte er verkündet.

Sein Geruchssinn war anscheinend noch so gut, dass er ihren charakteristischen Duft durch die verschiedenen Gerüche um sie herausfiltern konnte: das frisch gemähte Gras, die kristallklare Bergluft, ihre Angst, die ihr aus allen Poren drang. Irgendwo hatte sie gelesen, dass andere Sinne sich häufig stärker herausbilden, um Blindheit zu kompensieren.

»Das ist das Parfüm, das du mir geschenkt hast.«

»Ich weiß.«

Er drehte sich nicht zu ihr um.

»Es tut mir so entsetzlich leid«, sagte Giselle.

Er streckte die Hand nach ihr aus.

»Das gehört der Vergangenheit an«, erwiderte er.

Sie schluckte ihre Tränen hinunter und versuchte, sich ihm gegenüber unbeschwert zu geben, doch es war unmöglich.

Schließlich war sie dafür mitverantwortlich, dass William bei dem Unfall sein Augenlicht verloren hatte.

Weil sie eifersüchtig, gedankenlos und ungeschickt gewesen war.

In den vergangenen Monaten hatte sie immer wieder an den entsetzlichen Tag gedacht und was sie hätte anders machen können. Hätte er sich so schnell in seinen Arbeitsbereich verzogen, wenn sie an dem Morgen wegen Flicks Anwesenheit nicht so eifersüchtig und distanziert gewesen wäre? Hatte sie William absichtlich die falschen Flaschen gereicht, war es ihre unbewusste wütende Reaktion auf die Situation gewesen, oder doch nur ein schrecklicher Irrtum? Die Schuldgefühle lasteten schwer auf ihr.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte William.

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